Brill weiß, wovon er spricht. Er ist seit mehr als 20 Jahren in Sachen Digitalisierung unterwegs und erlebt immer wieder – als früherer WOM-Geschäftsführer auch am eigenen Leib -, wie das Thema eCommerce Märkte grundlegend verändert und ein Unternehmen nach dem anderen erfasst. Als Vordenker und Umsetzer in Sachen Digitalisierung und Vertikalisierung unterstützt sein Unternehmen „blue chips“ der Marken(artikel)industrie wie Thalia, Douglas, Brax, Metro, s.Oliver oder Galeria Kaufhof auf ihrem Weg ins 21. Jahrhundert.
Am Beispiel der Musikindustrie stellte der Experte die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte dar – angefangen bei WOM als Marktführer für Tonträger im Einzelhandel über den CD-Verkauf durch Amazon bis hin zum Verkauf einzelner Songs via iTunes und aktuell dem Erfolg von Streaming-Diensten wie Spotify. Im Gespräch mit infoboard.de kritisiert Brill die oft vorgenommene Gleichsetzung von Digitalisierung mit eCommerce. Händler würden heute denken, sie müssten unbedingt in die digitale Sphäre gehen, dabei seien dort selbst viele vermeintliche Benchmarks rückläufig.
Hoher Aufwand, steigende Kosten ^
Seiner Einschätzung nach landen die meisten Einzelhändler durch den eCommerce in der Multichannel-Falle. Denn: Der organisatorische Aufwand und die Kosten steigen, der Ertrag ist angesichts einer schier übermäßigen Konkurrenz durch große Player wie Amazon oder Alibaba aber eher gering. Brill: „Mit Multichannel erhöhe ich meine Komplexität, verschlechtere meine Kostenbasis, steigere damit aber nicht überproportional meinen Umsatz. Im besten Falle schiebe ich meine Umsätze von einem Kanal in den anderen – meistens kommt am Ende weniger heraus.“
„Die Kunden sind nicht online, weil sie unbedingt online kaufen wollen, sondern weil sie im Internet eine besondere Lösung finden“, sagt Brill. Mit anderen Worten: Die Konsumenten benötigen eigentlich nicht noch einen Onlineshop, sondern Nischen und spezielle Lösungen. Weil die digitale Technologie sich atemberaubend entwickelt, entstehen immer schneller immer mehr Möglichkeiten, die Dinge für den Kunden viel besser zu machen. Und mit jedem Technologiesprung werden alte Lösungen überflüssig. Vor diesem Hintergrund lautete Brills Rat an die Einzelhändler, ihr heutiges Geschäftsmodell nicht um jeden Preis zu verteidigen, sondern es bestenfalls selbst anzugreifen. Brill: „Händler sollten nur auf Lösungen setzen, die für den Kunden einen signifikanten Unterschied machen. Dabei ist es sinnvoll, substraktiv zu arbeiten und das Format auf das zu reduzieren, was wirklich benötigt wird.“
Die Zukunft? Unvorhersehbar! ^
Viel Mut macht Brill den Händlern erst einmal nicht: „Wir erleben heute nur im Ansatz, wie dramatisch sich in den kommenden Jahren das Verhalten von Kunden ändert, die Geschäftsmodelle revolutioniert werden und dabei Produkte entstehen, die ganze Märkte verschwinden lassen. Durch die digitale Revolution werden Unternehmen und Marken vor völlig neue Herausforderungen gestellt. Sie müssen sich auf eine Zukunft einstellen, die nicht vorhersehbar ist!“ Unternehmen und Händler müssten sich künftig auf Kunden einstellen, die – weil es geht – ihr Verhalten in immer kürzeren Abständen komplett auf den Kopf stellten.
Und sie müssten sich auf Wettbewerber einstellen, denen nichts heilig sei. Sie müssten Technologien beherrschen, die gerade erst entstehen. Und weil parallel die Kosten mit der Komplexität der Kanäle steige und die Umsätze von neuen Wettbewerbern unter Druck gesetzt würden, müssten sie zudem ihr gesamtes Geschäftsmodell weiterentwickeln. Brill: „Machen Sie sich klar, dass heute alles digitalisierbar ist. Reduzieren Sie Ihr Format auf das, was wirklich noch gebraucht wird! Entwickeln Sie Ihre Lösungen aus der Zukunft heraus! Und hören Sie nie wieder damit auf.“
Für die Zukunft sieht Brill bei den digitalen Formaten Wettbewerbsvorteile, bei denen der stationäre Handel nicht gegenhalten kann. Auch nicht beim Thema „Point of Emotion“? „Kleiderständer sind doch kein Erlebnis“, so der Experte für den digitalen Handel. Aber wenn sich die reale mit der digitalen Welt und der „virtual reality“ verschmelzen werden („die Frage ist nicht ob, sondern wann.“), wenn mir ein Kleid bei „Sex in the City“ besonders gefällt, ein Interface mein Interesse abspeichert und im Hintergrund recherchiert wird, wo ich besagtes Kleid in meiner Größe kaufen kann und wie es sich im Kontext meines Kleiderschrankes macht, dann ist der stationäre Handel fast auf verlorenem Posten.
Gleiches gilt auch für einen Kühlschrank, der nach den persönlichen Vorstellungen konfiguriert wird und die Kaufentscheidung schon vor der eigentlichen Produktion getroffen wird. Dann findet eine Interaktion zwischen dem Kunden und dem Produzenten statt. Brill: „Den Einzelhändler benötige ich dafür nicht mehr.“ Egal, ob Mode oder Hausgeräte: Zur Zukunftsmusik passt, dass die Produktion dann ortsnah (und vollautomatisch), also nicht mehr in Asien, vonstatten gehen kann.
Produziert wird also dort, wo der Konsum stattfindet. Wie das bei Hausgeräten funktionieren kann, hat Haier übrigens gerade erst gezeigt. In Hannover gab Haier einen Einblick, wie man als Konsument auf die Weiterentwicklung der Produkte direkten Einfluss nehmen und mittels „Zero Distance Strategie“ serienmäßig hergestellte Produkte nach individuellen Wünschen gestalten kann. Die Interaktion findet hier am Handel vorbei zwischen Kunden und Hersteller statt.
Aus der Zukunft heraus denken ^
Für Einzelkämpfer im Handel wird die Lage unübersichtlich. Aber auch den Kooperationen und Einkaufverbänden stellt Brill kein gutes Zeugnis aus: „Die Kooperationen müssen ihre Formate aus der Zukunft heraus denken. Amazon oder Zalando nachzubauen ist Quatsch. Damit betreiben die Händler ein Spiel, das sie nicht gewinnen können.“ Gesucht und Erfolg versprechend ist eine dauerhaft überlebensfähige Nischenstrategie. Patentrezepte, gibt es dabei keine, so Brill. Immerhin aber einen Ansatz: Habe ich etwas in meiner digitalen Sphäre, dass der Kunde von Amazon zu mir wechselt? Kann ich ein Bedürfnis meiner Kunden stillen, dass die Branchenriesen des digitalen Handels nicht können? Das kuratierte Einkaufen ist einer der gehbaren Wege.
Service wichtiger als Ware ^
Ein anderer ist der, dass die Beziehung zum Kunden – und der Service! – wichtiger werden als die Ware selbst. Brill: „Dem Kunden lediglich die Ware zu zeigen, ist nicht mehr relevant.“ Gefragt sei, wie man seinen Kunden mit seinem Sortiment in Einklang und Relevanz miteinander bringt. Man muss nicht mehr alle Produkte zeigen. „Angesagt sind die kleineren, besonderen Läden“, sagt Brill. Etwa der Buchhändler aus Wuppertal, der sich statt eines Vollsortiments erfolgreich auf die regionalen Bedürfnisse focussiert. Oder der Saturn-Ableger „Saturn connect“, der die Digital Natives mit einem „Rundum sorglos“-Paket an die Hand nimmt und das Credo lebt, Partner der Kunden zu sein.
„Die Interaktion mit dem Kunden ist wichtig. Der Faktor Mensch bekommt im Handel eine neue Funktion und muss ganz anders geschult werden“, sagt Brill. Apple hat das verstanden: Nicht umsonst ähneln die Verkaufsgespräche eher den Sitzungen beim Therapeuten. Darüber hinaus gilt: Es gibt keinen einfachen Weg mehr. Die Händler benötigen nichts weniger als eine Idee, wie ihre Unternehmen auch in Zukunft Relevanz haben werden.