Nix Normalität ^
Denn mehr als das, was man wirklich benötigt, kauft momentan niemand in der Innenstadt. So wichtig sie im Schutz vor dem Coronavirus auch sein mag: Wer in diesen Tagen mit einer Schutzmaske ein Geschäft betritt, für den ist der Point of Emotion, der Erlebniseinkauf, das Flanieren zwischen Dingen, die man gar nicht zwingend benötigt, wie aus einer anderen Welt – mal ganz abgesehen davon, dass sich die meisten vor Ebbe im Portemonnaie wie dem Virus im öffentlichen Raum fürchten.
Man reibt sich Montagfrüh um kurz nach acht am Kölner Hauptbahnhof die Augen. Nix Normalität! Mit dem ICE von Köln nach Berlin ist ohne Reservierung normalerweise eine „mission impossible“. Gleis 3 indes war menschenleer, im Großraumabteil verloren sich sechs Mitreisende.
Das kostet die Bahn Milliarden – und den Handel auch. „Die Maske beeinträchtigt das Einkaufsverhalten, stört die Leichtigkeit“, weiß Mark Rauschen, Geschäftsführer des Mode- und Sporthauses L+T. Lengermann & Trieschmann ist nicht nur das größte inhabergeführte Modehaus Norddeutschlands, das jährlich rund zehn Millionen Besucher in die Osnabrücker Innenstadt lockt.
Es ist auch eine Blaupause für das stationäre Einkaufserlebnis schlechthin, wenn man so will ein stationäres Anti-Amazon. Wer hier hin kommt, sucht das Einkaufserlebnis pur, kauft Dinge, von denen er gar nicht wusste, dass sie ihm fehlen. Rauschen‘s Plädoyer für die Innenstadt: „In der Peripherie wird der Bedarf gekauft, in der City das Besondere.“
„Es hat mich zermürbt, nur abzuwarten“ ^
Rauschen ist in den vergangenen Wochen durch ein „Wechselbad der Gefühle“ gegangen: „Es hat mich zermürbt, keinen Plan haben zu können, nur abzuwarten, was die Politik vorgibt“, sagte der Unternehmer am vergangenen Montag im Digital-Talk „Handel meets Politik“ der Pro-Bono-Initiative „Händler helfen Händlern“ – infoboard.de gehört hier, wie zahlreiche Handelsverbände und Media Markt sowie Saturn, zu den Unterstützern der ersten Stunde.
Über Social Media, Videos und Home-Stories vor allem, hat L + T mit seinen Kunden Kontakt gehalten, dennoch: „Wir sind Fläche und ein Anti-Online-Erlebnis, unser Kernprozess ist analog, auch wenn wir eine digitale Customer Journey haben“, so Rauschen.
Aktuell hat L + T eine Besucherfrequenz von etwa 60 % zu den früheren Werten erreicht. Der Politik, die die Innenstädte nach wie vor am liebsten ohne Menschenansammlungen sieht, dürfte das nicht unrecht sein, für den Handel indes laufen die Waren- und Besucherströme derweil paradox, auf den Punkt gebracht: „Alles muss raus (insbesondere bei den Textilern), aber keiner will rein!
Keine Kauflaune ^
Bei den geltenden Abstandsregeln, Hygienevorschriften und Schutzmaskenpflicht kommen nur wenige in echte Kauflaune. Die Situation im Handel bleibt angespannt, viele Unternehmen stehen weiterhin vor einer existenziellen Bedrohung. Gesundheitsminister Jens Spahn stellte sich in dieser prekären Lage der Diskussion im Digital-Talk von „Händler helfen Händlern.“
Er äußerte wiederholt, dass man mit dem Wissen von heute in den vergangenen Wochen manche Dinge möglicherweise anders entschieden hätte. So seien einheitliche Hygiene- und Abstandsregeln sicherlich eine bessere Lösung als die viel diskutierte 800-Quadratmeter-Beschränkung: „Das hat uns Akzeptanz gekostet.“ Und: „Wir hätten uns weniger in Detailfragen einmischen sollen.“
Immerhin hat durch die Maßnahmen der Bundesregierung in Abstimmung mit den Länderchefs die Anzahl der Neuinfizierten zu Beginn dieser Woche mit etwas über 300 pro Tag eine Größenordnung erreicht, mit der man umgehen könne. Das Paradoxe, so Spahn: „Weil wir mittlerweile so wenig Patienten haben, ist es jetzt schwieriger, medizinische Studien zu machen.“
Fast ein Luxus-Problem, um das uns andere europäische Staaten beneiden. Spahn sieht die getroffenen Maßnahmen derweil näher beim schwedischen, denn beim französischen Modell: „Wir können Schritt für Schritt zurück in den neuen Alltag.“
„Neuer Alltag“: Öde Innenstädte? ^
Zurück in die immer noch recht öden Innenstädte. Ohne Gastronomie ist das Einkaufserlebnis in der City nur halb so schön. Und jetzt, wo das Gastgewerbe unter strengsten Auflagen, die ein wirtschaftliches Betreiben kaum möglich machen, endlich öffnen dürfen, schieben die Eisheiligen der Außen-Gastronomie einen Riegel vor.
Was also wird aus dem Einzelhandel? „Der Staat hat bei Corona gezeigt, dass er sehr viel durchsetzen kann, wenn er will“, sagte der Philosoph Richard David Precht in der Samstagsausgabe (9. Mai) der in Düsseldorf erscheinenden Rheinischen Post. Und weiter: „In der neuen Normalität brauchen wir den stationären Handel, sonst veröden die Innenstädte. Leider gab es diesen Willen, den Einzelhandel zu fördern, bislang nicht. Das rächt sich derzeit bitter und sollte sich dringend ändern.“
„Wir werden Herausforderungen meistern“ ^
Überall Wüste in der Corona-Krise also? Mitnichten, nicht wenige haben nach kurzer Schockstarre das Momentum des Beschäftigungsverbotes für sich genutzt. telering Geschäftsführer Franz Schnur sagt: „Mich hat der ausgesprochen starke Wille und der Kampfgeist unserer IQ-Fachhändler, den die Corona-Krise in unseren Reihen hervorgerufen hat, besonders beeindruckt. Ich kennen keinen IQ-Fachhändler, der jetzt seinen Kopf in den Sand gesteckt hat.“
Und weiter: „Wir werden die neuen Herausforderungen meistern, allein schon deshalb, weil trotz aller Veränderungen einige Fakten ihre Gültigkeit und Wichtigkeit behalten werden – etwa die besondere Bedeutung des inhabergeführten Fachhandels für die Gesellschaft oder die Tatsache, dass das Ladenlokal eine Stätte der Begegnung und Kommunikation ist und bleibt. Der Service entscheidet auch zukünftig über Erfolg oder Misserfolg!“
Lokale Nähe zahlt sich aus ^
Euronics meldet, dass die stationäre Nachfrage „bemerkenswert gut“ sei und die Kunden das neue, alte Angebot dankbar annehmen. Mehr noch: Der Umsatz im April lag nach eigenen Angaben fast wieder auf Vorjahresniveau. Gleichzeitig entwickelt sich der Online-Absatz deutlich positiv.
Frank Schipper, Geschäftsführer von Euronics XXL Lüdinghausen: „Wir haben die letzten Wochen intensiv genutzt, um unsere Online-Aktivitäten auszubauen und auf verschiedensten kontaktlosen Wegen für unsere Kunden da zu sein. Zudem zeigen die letzten Wochen, dass sich lokale Nähe und aufgebautes Vertrauen auszahlt. Wir sind überwältigt von der Welle der Dankbarkeit und des Zuspruchs, die wir von unseren Kunden erfahren haben.“
Crashkurs in puncto digitaler Kommunikation ^
Nicht anders bei Dirk Wittmer, Geschäftsführer bei Euronics XXL Johann + Wittmer, den infoboard.de schon am Tag eins des Shut-downs im Handel Mittel März besucht hatte. Jetzt, gut sechs Wochen später, zieht der Euronics-Aufsichtsratsvorsitzende nach einem „sechswöchigen Crashkurs in Sachen digitaler Kommunikation“ eine erstaunliche Zwischenbilanz: „Wir haben nicht im Traum damit gerechnet, aber wir haben, obwohl der Laden zu war, keinen Umsatz verloren.“
Die Botschaft „Wir sind für Sie da!“ bespielte Wittmer mit seinem Team mit viel Wortwitz, einer Prise Humor und engagierten wie kreativen Mitarbeitern mit täglich neuen Motiven auf allen Social-Media-Kanälen und der örtlichen Ratingen App.
Wittmer: „Unsere Werbung war eine Mischung aus Entertainment und Produktnews. Wir haben in der Kommunikation Dinge gemacht, die wir so vorher nicht gemacht haben. Von der Resonanz sind wir geflasht.“ So geflasht, dass die Kampagne weiterläuft, obwohl man zwischenzeitlich wieder auf voller Fläche im Ratinger Westen öffnen konnte.
Wir brauchen den Kundenkontakt ^
Der Unternehmer vor Ort, der den Kopf nicht in den Sand steckte, macht einmal mehr den Unterschied. Keine Floskel, sondern gelebte Realität. „Das Probieren macht so viel Spaß, dass wir auch weiterhin täglich neue Dinge posten werden“, so Wittmer, der in der Kundenansprache künftig noch stärker auf das Digitale setzen will, ohne dabei ganz auf den Flyer zu verzichten: „Wer online unterwegs ist, sucht ein konkretes Produkt. Der Flyer hat die Funktion der Inspiration, idealerweise um Dinge zu finden, die ich gar nicht gesucht habe.“
Technik für ein besseres Leben ^
Vor allem aber: „Wir brauchen die Beratung, den Kontakt mit unseren Kunden hier vor Ort, damit unsere Spannen wieder hochgehen.“ Dazu gehört auch, dass man den Laden als Treffpunkt umgestalten möchte, um für mehr Aufenthaltsqualität zu sorgen. Wittmer: „Wir wollen mit unseren Kunden noch stärker in Kontakt kommen und in Kontakt bleiben. Denn wir wollen nicht nur Technik, sondern auch den Produktnutzen für ein fröhliches, besseres Leben verkaufen!“
Angst vor einem neuen Stillstand müssen Wittmer und seine Kollegen erst einmal nicht haben. Gesundheitsminister Spahn im Digitaltalk am Montag dieser Woche zu einem etwaigen neuen „Shut-down“ im Handel: „Flächendeckende Beschränkungen sehe ich nicht, wenn wir die Fälle lokal schnell identifizieren können.“