Endzeitstimmung im Handel? Lauert, zumindest auf dem Land und in der Kleinstadt, der Tod auf Raten? Fakt ist, der Online-Handel beeinflusst die Standorte des Einzelhandels messbar und signifikant. Die Umsätze im stationären Handel gehen zurück, die stationäre Händler, aber auch die Kommunen (denn eine attraktive City ist ohne florierenden Einzelhandel schwerlich denkbar) sind zunehmend verunsichert. Der Online-Handel in Deutschland erzielt mittlerweile Umsätze in Größenordnungen, die Konsequenzen für die gesamte Handelslandschaft haben.
Mit einem massiven Sterben von bis zu 50.000 Geschäften in den kommenden fünf Jahren rechnet der Präsident des Deutschen Handelsverbandes (HDE), Josef Sanktjohanser. „Das betrifft Tausende Arbeitsplätze vor allem in Geschäften in strukturschwachen Gebieten. Der Betrieb der Läden rechnet sich schon heute vielerorts nicht mehr, weil die Kundenfrequenz eingebrochen ist“, sagte der oberste „Laden-Hüter“ des Landes in einem Interview mit der „Wirtschaftswoche“ in der vergangenen Woche. Und: „Das liegt nicht nur am Online-Handel, sondern auch an Faktoren wie der demografischen Entwicklung und der Abwanderung der Menschen in größere Städte.“ Vielen Klein- und Mittelstädten drohe die Verödung.
[incor name=”story-01″]Dagegen wird auch die Politik nichts tun können. Die „Spielwiese“ bleibt dennoch groß. Vor dem Start der Initiative „Dialogplattform Einzelhandel“ mit Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel am vergangenen Dienstag forderte der Präsident des Handelsverbandes vor allem gleiche Spielregeln für Online- und stationären Handel und ein Ende der Steuersparmodelle von ausländischen Handelsriesen wie Amazon. Sanktjohanser in der „Wirtschaftswoche“: „Die Politik kann dazu beitragen, dass Innenstädte attraktiv bleiben. Über die „Dialogplattform Einzelhandel“ wollen wir das Bewusstsein dafür schärfen, dass vom Staat mehr Geld in die Infrastruktur investiert werden muss. Gleichzeitig drängen wir auf Reformen im Bau- und Steuerrecht, um den Händlern Investitionen zu erleichtern. Nicht zuletzt brauchen wir aber einheitliche Spielregeln im Markt. Derzeit werden die klassischen Händler gegenüber Online-Anbietern diskriminiert.“
[incor name=”story-02″]Alarmstimmung auch im Bundeswirtschaftsministerium. Wie können die Einzelhandelsunternehmen, Kommunen, Länder und der Bund auf den tiefgreifenden Strukturwandel im Einzelhandel reagieren? Abhilfe schaffen soll die neue „Dialogplattform Einzelhandel“. Ziel ist, neue Perspektiven, Lösungsansätze, Schlüsselstrategien, Handlungsempfehlungen und „best-practice“-Beispiele zu erarbeiten, damit eine Verödung der Innenstädte verhindert und die Versorgung im ländlichen Raum gewährleistet werden.
Hier stellen sich viele existentielle Fragen: Wie groß sind die direkten und indirekten Effekte der Digitalisierung im Einzelhandel? Inwieweit kann das Verbraucherverhalten durch ein verändertes stationäres Angebot beeinflusst werden? Welches Informationsangebot wird in welcher Form online benötigt? Und welche digitalen Lösungen sind im stationären Bereich notwendig?
[incor name=”story-03″]“Wer sich der Digitalisierung verschließt, wird von ihr überrannt“, sagte Wirtschaftsminister Gabriel zur Eröffnung der Dialogplattform vergangene Woche in Berlin. „Es nutzt gar nichts, nach einem Schuldigen zu suchen und rückwärts zu schauen. Die Digitalisierung hat alle Wirtschaftsbereiche erfasst. Der Handel steht an vorderster Front, es entstehen plötzlich Wachstumschancen, die zunehmend auch der stationäre Handel für sich nutzt in einem Markt, der ansonsten eher bescheiden wächst“, schloss sich HDE-Präsident Sanktjohanser an. Alarmierend ist diese von ihm genannte Zahl: „Aktuell sind knapp zwei Drittel unserer Unternehmen gar nicht digital unterwegs, nicht einmal mit einer Onlinepräsenz.“
[incor name=”story-04”]Der Online-Handel hat verstanden, die Digitalisierung zu nutzen und Antworten auf veränderte Verbraucherwünsche zu geben. Stationärer Handel und Kommunen tun sich vielfach immer noch schwer, die marktkonformen und überlebenswichtigen Antworten zu finden.
Wir haben eine ganze Reihe an Antworten gefunden: Das 27. Wirtschaftsforum für Handel und Dienstleistung in Ostwestfalen-Lippe zeigte unter der Headline „Update Einzelhandel“ den Strukturwandel als Herausforderung und Chance für den stationären Fachhandel auf. Was die hochkarätigen Referenten einte: Es waren lauter Mutmacher. Wenn es denn einen roten Faden zwischen Trendforscher Dr. David Bossart vom Gottlieb-Duttweiler Institut aus Rüschlikon bei Zürich, Einzelhandelsberater Alexander von Keyserlingk, Retail-Designer Wolfgang Gruschwitz und Kaufhaus-Urgestein Ralf Schwager gibt, dann der, das die Unternehmerpersönlichkeit und das ganz persönliche Handelskonzept – beides nicht voneinander zu trennen – den Unterschied macht. Bossart, ein brillanter Rhetoriker, spitzte es zu: „Es gibt niemals gesättigte Märkte, es gibt nur gesättigte Führungskräfte!“
[incor name=”story-05″]Bossard ging in seinem Beitrag über „die Zukunft des Einzelhandels“ mit den Markt-Akteuren hart ins Gericht: Man stehe vor dem schnellsten und größten Umbruch der Industrialisierung. Indes: „Keiner hat das wirklich begriffen! Mental sind wir Jäger und Sammler geblieben.“ Der Handel müsse aufpassen, nicht immer mehr Entscheidungsmacht an die neuen Player wie Amazon, Facebook & Co zu verlieren. Wie schnell der (digitale) Wandel voran schreitet, zeigt sich beispielhaft an Namen wie Sony oder insbesondere an Nokia: Vor einem Jahrzehnt en vogue, heute im Konzert der Großen unter „ferner liefen“.
[incor name=”story-06″]„Denken Sie nicht in Branchen, denken Sie in Funktionen“, forderte Bossart die Teilnehmer des Wirtschaftsforums in Bielefeld auf. Die Funktion sei essentiell. Heißt konkret: „Das Banking ist essentiell, die Bank ist es, da austauschbar, nicht.“ Auf den Handel bezogen: „Retailing is essential, Retailers are not!“ Wichtig ist, wem der Kunde im Technologie-Puzzle sein Vertrauen schenke. Lokal starke Anbieter haben hier Vorteile, da sie eine emotionale Bindung aufbauen. Dinge, die funktionieren und zuverlässig sind, schenkt man Vertrauen. „Das gilt auch für Amazon“, so Bossart. Man schenke dem sein Vertrauen, der einem etwas bietet und das Leben erleichtert. Dem Handel fehle nicht die Technik, Dinge umzusetzen, sondern die Vorstellungskraft, dass die Dinge auch ganz anders gemacht werden können. Online oder Offline? „Denken Sie nicht in Kanälen, sondern in persönlichen Dienstleistungen“, so Bossart. Die Handelszukunft werde personalisierter, segmentierter, spezialisierter und feedbackorientierter.
[incor name=”story-07″]„Wenn Kunden zu Fans werden sollen, sind Glaubwürdigkeit und Leidenschaft gefragt“, nahm Einzelhandelsberater Alexander von Keserlingk in seinem Vortrag „Wachstum durch Individualisierung“ einen Ball Bossarts auf. Sein Erfolgsrezept, dargelegt an einer Handvoll wunderbarer Beispiele: Jedes Geschäft muss seine Einzigartigkeit leben, eine eigenständige Identität schaffen. Menschen kaufen nicht nur Ware, sondern erwerben beim Einkauf auch etwas von der Umgebung. „Schaffen Sie ein Einklaufserlebnis, schaffen Sie positive Erinnerungen, kommen Sie raus aus der Vergleichbarkeit!“
Einer, der alles anders macht als die anderen und den es eigentlich, glaubt man all’ den Unternehmensberatern, gar nicht mehr geben dürfte, ist das Kaufhaus-Urgestein Rolf Schwager aus Holzminden. Handel im Internet? Nein! Unternehmensberater? Kommt keiner über die Türschwelle. Erfa-Gruppe? Bloß nicht. Ja, was dann? „Wir machen alles in Eigenregie“, so Schwager, eine gestandene Unternehmer-Persönlichkeit alter Schule. Sein Erfolgsrezept: „Die richtige Ware am richtigen Ort zum richtigen Zeitpunkt und richtigen Preis.“ So einfach kann Handeln sein!
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