Buch-/Management-Tipp

„Direct2Consumer untergräbt die Stärken des Handels“

Nach drei Jahrzehnten in der Branche hat sich Euronics-Urgestein Rudolf Reill Mitte vergangenen Jahres in den Ruhestand verabschiedet. Am 1. Oktober 1991 fing Reill bei der Interfunk als Fachberater an, war bei maßgeblichen Entwicklungen der Euronics-Historie unmittelbar beteiligt.


Reill hat viele Coaching-Maßnahmen, Vorträge und Workshops durchgeführt und geleitet. So war er für die Betreuung der Händler mit Themen wie Betriebswirtschaft, Marketing, Ladenbau, Sortiment, Expansion, Akquisition, Service und Werkstatt betraut. Zu seinen Aufgaben gehörten die Projektplanung und -begleitung von Umbauten und Expansionen im Bereich Fachmarkt u.a. in Baden-Württemberg und Bayern sowie die Betreuung von Werbegruppen.

„Immer weniger Menschen haben Freude daran, im Einzelhandel auf der Fläche zu arbeiten. Dafür gilt es Konzepte zu finden, die den Arbeitsplatz attraktiver und für den Handel bezahlbar machen“, Rudolf Reill.

Ganz vom Handel konnte Reill nicht lassen: Seit Sommer vergangenen Jahres ist er als Berater und Coach mit seinem Unternehmen „rbf business“ am Start, in das Anfang des Jahres auch seine Tochter Simone, die Pädagogik und Arbeits- sowie Organisationspsychologie studiert hat, als Partnerin eingestiegen ist. Sie erweitert das Portfolio durch ihre langjährige Expertise um Personal- und Führungskräfteentwicklungsthemen.

Schwerpunkte des Portfolios der rbf business sind Coaching (Führungskräfteentwicklung, Digitalcoaching, Einkaufsworkshop, Telefontraining und Videokonferenzen u.a.), Consulting (Beratung von Unternehmen, primär aus dem Einzelhandel zu den bereits bei Euronics getätigten Aufgaben) sowie „Moderne Umgangsformen – Knigge heute“ (Businessknigge, Azubiknigge). Aktuell liegen die Schwerpunkte in den Bereichen Coaching/Consulting.

Reills Blick in die Zukunft: „Der Einkauf vor Ort wird weiterhin Bestand haben, jedoch steht der Erlebniskauf im Vordergrund. Um die Konsumenten in die Läden zu bekommen, muss einiges getan werden: gutes Sortiment, verfügbare Ware, Wohlfühlzonen und Erlebnisbereiche. Vor allem: „Der Verkäufer und Berater ist als Mensch besonders gefordert. Leider wurden die während der Pandemie sehr positiv eingesetzten ‚Instrumente“, wie ‚same day delivery‘, Telefonberatung oder Produktreservierung größtenteils wieder eingestellt.

Ein Interview über Reills Zeit bei Euronics, über die Markendifferenzierung der Verbundgruppen, das Thema Direct2Consumer und wie sich die Innenstadt zum Marktplatz des 21. Jahrhunderts entwickeln kann.

Sie waren 30 Jahre Regionalleiter bei Euronics. Was waren Ihre Meilensteine?

Es war grandios, die Entwicklung der Kooperation miterleben zu können. Mein persönlicher Meilenstein war die Möglichkeit der persönlichen Entwicklung im Rahmen der Beratungstätigkeit, also der Umstieg vom damaligen Fachberater hin zum Regionalleiter Fachmarkt mit seinen vielfältigen Aufgabengebieten.

Welche Rolle spielt Ihre Tochter Simone Reill im Unternehmen?

Meine Tochter Simone spielt eine wesentliche Rolle im Bereich des Coachings, hier primär bei der Führungskräfteentwicklung. Ihr Fachwissen und ihre langjährige Praxis in namhaften Unternehmen sind eine wichtige Säule des Ganzen.

Der Schwerpunkt des Unternehmens liegt momentan im Bereich Coaching.

Der Handel mit Hausgeräten und Consumer Electronic wird hierzulande vor allem durch die Verbundgruppen geprägt. Wer ist hier für Sie, mal aus Ihrer persönlichen Sicht als Endverbraucher, die „stärkste“ Marke?

Die Antwort fällt nicht leicht. In Bezug auf die Verbundgruppen sehe ich die drei E’s im Vordergrund, also Euronics, Expert und ElectronicPartner. Eine Priorisierung ist sehr schwierig, da ich nach fast 30 Jahren sehr von der Euronics geprägt bin. Es haben sicherlich alle Ihre Stärken und Schwächen. Entscheidend ist für mich und den Konsumenten, wie vor Ort die „Marke“ gelebt und umgesetzt wird und für den einzelnen Händler passend ist.

Wo sehen Sie – auch von außen betrachtet – die Unterschiede in der Markendifferenzierung der Verbundgruppen?

Die vielfältigen Markenauftritte der Verbundgruppen sind oft vom Endverbraucher schwer zu durchleuchten. Dazu kommen Unterschiede in der regionalen Umsetzung und wie die Marke dann, wie bereits erwähnt, vor Ort gelebt wird. Eine Differenzierung fällt dem Konsumenten sicher nicht leicht.

Ein Top-Thema im Handel ist Direct2Consumer. Eine Gefahr für den stationären Handel oder vielleicht sogar eine sinnvolle Ergänzung?

Welche Strategien die Lieferanten verfolgen, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich will dabei nicht von einer Gefahr sprechen. Es ist aus Sicht der Lieferanten legitim, breite Vertriebswege zu öffnen. Der stationäre Handel ist aber mehr denn je gefordert, eine konstruktive Zusammenarbeit mit den Lieferanten zu forcieren und umzusetzen.

Ich bin der Überzeugung, dass der Handel Leistungen erbringen kann, die einem mit Direkt2Consumer nicht bis ins Detail möglich sind. Den Handel nur noch als ein Glied der Lieferkette zu sehen, das finde ich nicht gut. Das untergräbt die Stärken des Handels vor Ort. In gegenseitigen Wettbewerb zu treten halte ich für nicht angebracht und schadet dem regionalen, stationären Handel enorm.

Insbesondere in B-Lagen gibt es jetzt immer öfter Geschäftsaufgaben. Fakt aber ist, eine Innenstadt ohne funktionierenden Einzelhandel ist nicht überlebensfähig. Sind mehr Gastronomie, mehr Aufenthaltsqualität, mehr inhabergeführter Einzelhandel, mehr Pop-up-Stores, weniger uniforme Formate ein Ansatz, wieder Leben in die Fußgängerzone zu bringen?

Ich habe vor zwei Wochen bei einem Einkaufsbummel in einer süddeutschen Großstadt mit Erschrecken die Leerstände in den Fußgängerzonen festgestellt. Es ziehen sich immer mehr Ketten zurück und hinterlassen Leerstände. Sicher haben da die Pandemie und die enorme Zunahme des Online-Handels ihre Spuren hinterlassen. Leerstände werden jetzt öfters als Pop-up-Stores genutzt oder für Ausstellungen.

Es ist aus eigener Beobachtung feststellbar, dass sich punktuell wieder mehr junge Leute in den Innenstädten aufhalten. Ob jedoch dies zu mehr Kaufanreizen führt, wage ich zu bezweifeln. Sicher ist mehr inhabergeführter Einzelhandel notwendig. Dagegen sprechen die zum Teil immens hohen Mieten und die Personalproblematik sowie die erforderliche Wirtschaftlichkeit. Auch die unterschiedlichen Öffnungszeiten sind nicht förderlich. Man betrachte sich nur mal die Samstage in Unter- und Mittelzentren.

Haben eine gemeinsame Leidenschaft zur Geschäftsidee reifen lassen: Rudolf und Simone Reill.

Wie kann sich die Innenstadt zum Marktplatz des 21. Jahrhunderts entwickeln?

Genau das Thema Marktplatz ist für mich ein sehr wichtiges Thema. Der Mietermix und die Bezahlbarkeit der Flächen sind eine der wichtigsten Hausaufgaben der Städte und Kommunen. Die Innenstädte müssen für alle attraktiver werden, für Familien, die Jugend, die Senioren. Heute fehlt es oft an Attraktivität und Erlebnis-punkten. Ich bin kein Stadtentwickler, verfolge aber die teilweise drastische Verödung von Innenstädten, primär auch in den Unter- und Mittelzentren. Sehr oft kann nicht einmal mehr der tägliche Bedarf gedeckt werden.

Was sind aktuell die größten Herausforderungen des Handels?

Für mich sind zum heutigen Zeitpunkt die größten Herausforderungen in der Preisstabilität. Die Pandemie und der Ukrainekrieg hinterlassen im Handel erhebliche Kerben. Die Verfügbarkeiten von Produkten durch den Ausfall von Lieferketten sind sehr prägnant. Auch die Verteuerung der Energiekosten trifft den Handel sehr hart.

Die Kostenspirale dreht sich vehement weiter, die Ertragslagen und Spannen nehmen weiter ab. Die Wirtschaftlichkeit einiger Betriebe ist sicher infrage zu stellen und wird den Handel zu immer mehr Geschäftsaufgaben zwingen. Auch die Kauflust und die Anschaffungsbereitschaft beim Konsumenten haben spürbar abgenommen.

Aber auch die Personalsituation ist angespannt. Immer weniger Menschen haben Freude daran, im Einzelhandel auf der Fläche zu arbeiten. Auch dafür gilt es Konzepte zu finden, die den Arbeitsplatz attraktiver und für den Handel bezahlbar machen.

Mit Corona hat sich das Einkaufsverhalten geändert. Welche Trends sehen Sie?

Ich sehe weiterhin den starken Trend zum Online-Handel. Wir müssen versuchen, die Kunden wieder in die Läden zu bekommen. Es gilt dafür attraktive Lösungen zu erarbeiten. Dazu gehören auch die Verbesserung der Beratungsqualität und der Service als Ganzes.

Aufgrund der Preissteigerungen wird aus meiner Sicht das Geld zukünftig sehr überlegt ausgegeben werden. Es wird ganz klar gezielter konsumiert. Die Inflationsrate liegt da wie Mehltau auf dem Gemüt der Verbraucher. Eine Steigerung der Attraktivität der Verkaufsflächen ist da unabdingbar.

Ein gutes Stichwort. Ohne ein schlüssiges POS-Konzept, vor allem aber einen Point of Emotion, gibt es für Kunden immer weniger Gründe, den stationären Handel aufzusuchen. Womit können Händler punkten?

Schon vor der Pandemie haben wir bei Euronics erkannt, dass das Einkaufserlebnis und die Bindung der Kunden sowie die Aufenthaltsdauer des Konsumenten in den Läden verbessert werden muss. Wir haben da frühzeitig angefangen, den Point of Emotion zu kreieren.

Ich selbst habe bei Umbauten diverser Fachmärkte „Ruhezonen“ bis hin zu kleinen Cafés eingeführt, wo der Kunde in Ruhe eine Tasse Kaffee trinken kann. Möglichkeiten für mehr Emotion im Laden gibt es viele: Der Einsatz von Tablets zum Schmökern und Surfen im Netz, Spielecken für Kinder, Hifi-Studios in Form von Wohnzimmern, Kaffeevorführungen, Showkochen, Erlebnisküchen, ein E-Scooter-Parcour oder die Forcierung des Bereiches e-Mobility.

Omnichannel bleibt eine große Herausforderung, vor allem: Wie lässt sich der traditionelle Handel dauerhaft mit online kombinieren?

Durch gemeinsame Attraktivität in der Darstellung, durch einheitliche Sortimente und gleiche Preisstellung. Eine zweigleisige Preisstellung halte ich für nicht angebracht. Dazu gehören funktionierende Konzepte im Vertrieb und ein enges Zusammenspiel mit der Industrie. Schlüssige Dienstleistungen und Servicekonzepte müssen etabliert beziehungsweise forciert werden.

Eine entsprechende Transparenz der angebotenen Leistungen muss für den Konsumenten zwingend erfolgen und „sichtbar“ sein. Es gibt immer noch Lieferanten, die Produkte nicht zur Online-Vermarktung zulassen. Auch das sollte auf den Prüfstand.

Ist man als Einzelhändler alleine überhaupt noch überlebensfähig oder benötigt man das Know-how & die Einkaufsmacht einer starken Verbundgruppe dringender denn je?

Aufgrund der Vielfältigkeit der Themen und des Wandels im Handel in den letzten Jahren kann ein Einzelkämpfer auf Dauer nicht überleben. Ohne eine starke Verbundgruppe gibt es für mich keine Zukunft. Die Vorteile im Wissenstransfer, der Konditionsbündelung, der Werbung und im Marketing, des Vertriebes Online wie Offline sind enorm und kann vom Einzelkämpfer nicht gewährleistet werden.

Weitere Informationen & Kontakt: https://rbf-business.de/; business@rbf-business.de

Matthias M. Machan

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