Die Schweizer leben weiterhin auf einer Insel der Geldstabilität. Sie verzeichneten im Mai 2023 eine Inflationsrate von lediglich 2,2%. Im Gegensatz dazu sind die Inflationsraten in Deutschland und Österreich mit 6,1% und 8,8% fast drei beziehungsweise vier Mal so hoch.
Woher kommt diese große Divergenz in der Preissteigerung der alpinen Anrainerstaaten? Und warum liegen die gefühlte und die tatsächliche Inflation derzeit so weit auseinander wie zuletzt bei der Euro-Einführung vor mehr als 20 Jahren? Eine aktuelle Analyse des Kreditversicherers Allianz Trade hat die Treiber der unterschiedlichen Entwicklung untersucht.
„Die gefühlte und die tatsächliche Inflation klaffen insbesondere in Deutschland weit auseinander“, sagt Jasmin Gröschl, Senior Volkswirtin bei Allianz Trade. „Die gefühlte Inflation in der Eurozone ist fast dreimal so hoch: Sie lag zuletzt bei fast 17% und damit ungefähr satte 9 Prozentpunkte (pp) höher als die tatsächliche Teuerungsrate in diesem Quartal. In Deutschland lag die Abweichung der gefühlten Inflation von mehr als 18% sogar bei 11p. Das ist nicht unerheblich, denn die gefühlte Inflation beeinflusst das Handeln der Verbraucher stark, zum Beispiel beim Kaufverhalten. Diese Diskrepanz spielt also gerade für die Wirtschaft und die Unternehmen sowie für die Zinspolitik eine wichtige Rolle.“
Die Diskrepanz hat verschiedene Gründe. Verbraucher achten beispielsweise stärker auf Preisänderungen bei häufig anfallenden Einkäufen wie Lebensmittel und Getränke, Kraftstoff oder sonstigen Besorgungen im Supermarkt. Wenn dort diese Preise überdurchschnittlich steigen, neigen die Menschen dazu, eine wesentlich höhere Teuerung zu empfinden.
Aber auch psychologische Aspekte, demografische und regionale Unterschiede, und individuelles Konsumverhalten können dazu führen, dass Verbraucher den Preisanstieg anders beurteilen als die offizielle Inflationsmessung. So entstehen ein verzerrtes Bild und eine starke Diskrepanz zwischen der wahrgenommenen und tatsächlichen Inflation.
Aber nicht nur in der Wahrnehmung der Inflation bestehen viele Unterschiede – in Europa sowie im deutschsprachigen Raum klaffen die Teuerungsraten weit auseinander. Die Inflationsrate in der EU lag zuletzt bei durchschnittlich bei über 8%. In der Eurozone lag die Teuerungsrate im Mai bei 6.1% im Vergleich zum Vorjahr. Allerdings fällt die Inflation in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich aus. Im Mai 2023 reicht die Spanne von 2,8% in Griechenland bis 13,0% in Polen und 21,5% in Ungarn.
„Schlüsselfaktoren bei der Inflation sind die geografische Nähe zu Russland, die Abhängigkeit von Energie- und Lebensmittelimporten, staatliche Eingriffe zur Senkung einzelner Preise und die Stärke der jeweiligen Währung“, sagt Jasmin Gröschl.
In Deutschland kommen alle Faktoren, die die Inflationsrate beeinflussen zum Tragen: Die hohe Abhängigkeit von Energieimporten aus Russland ließ die Energiepreisrechnung stark ansteigen. Die deutsche Regierung hat dem mit Strom- und Gaspreisbremse entgegengewirkt. In der Eurozone hat ein schwacher Euro gegenüber dem Dollar die Inflation erhöht, da Rohstoffe wie Öl oder Gas, die in Dollar gehandelt werden, teurer geworden sind.
In den letzten Wochen und Monaten hat Deutschland aufgrund der Zinserhöhungen der EZB von dem stärkeren Euro profitiert. Die Erzeuger- und Großhandelspreise sind daher seit Herbst 2022 gesunken, was die Inflation mit einer gewissen Verzögerung dämpfen wird.
Dass Österreich eine höhere Inflation hat als die deutschen Nachbarn, ist keineswegs neu – allerdings ist der Abstand aktuell höher als in den letzten Jahrzehnten. Ein Teil erklärt der unterschiedliche Warenkorb: Österreich hat einen starken Tourismussektor, in dem Investitionen in höhere Qualität in letzter Zeit zu einem starken Preisanstieg geführt haben. Da der Tourismussektor im Warenkorb der harmonisierten Verbraucherpreise in Österreich fast dreimal so viel Gewicht hat wie in Deutschland, bestimmt er somit die höheren Inflationsraten.
Die Schweiz profitiert indessen vom seit langem starken Schweizer Franken, der die Inflation über die Importpreise und die unterschiedliche Konsumstruktur aufgrund des höheren Einkommensniveaus in der Schweiz dämpft. Zudem versorgt sich die Schweiz weitgehend selbst mit Strom aus Wasserkraft und Kernenergie und importiert nur wenige Lebensmittel.
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