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Rekordumsatz. Kurzarbeit. Innenstadt-Drama.

Das muss man erst einmal verstehen: Die deutschen Einzelhändler haben ihren Umsatz im vergangenen Jahr trotz – und manche Branchen sogar wegen – der Corona-Krise so kräftig gesteigert wie noch nie. Sie nahmen, so die Schätzungen des Statistischen Bundesamtes vom Dienstag vergangener Woche, satte 5,3% mehr ein als im Kalenderjahr 2019. Das ist nicht nur das elfte Wachstumsjahr in Folge, sondern auch das kräftigste Plus seit Initiierung dieser Statistik im Jahr 1994.

Nur zwei Tage später wird ein Brandbrief des Handelsverbandes Deutschland (HDE) an die Bundeskanzlerin publik, der an Deutlichkeit kaum zu überbieten ist: Der von den Schließungen betroffene Einzelhandel sieht sich ohne Zukunftsperspektive und in akuter Existenzgefahr. Immer wieder wird die Zahl von 50.000 Geschäften genannt, die über kurz oder lang vor dem Exitus stehen (wobei man fairerweise erwähnen muss, dass das Corona-Virus hier wie ein Brandbeschleuniger für alle die wütet, die nicht spätestens im vergangenen Sommer die Digitalisierung beherzt angegangen sind).

Historische Pleitewelle zeichnet sich ab

Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Einzelhandelsverbandes HDE: „Der Bundesfinanzminister muss sich jetzt bewegen. Es zeichnet sich eine Pleitewelle ab, wie wir sie noch nicht erlebt haben.“ Rekordumsatz hier, Kurzarbeit, Pleitewelle und verwaiste Innenstädte dort? Das stimmt beides, wie der Blick aufs Detail zeigt. Fakt ist: Der Einzelhandel in Deutschland hat im Jahr 2020 nominal (nicht preisbereinigt) zwischen 5,1% und 5,5% mehr umgesetzt als im Jahr 2019. Diese Schätzungen berücksichtigen den Lockdown in der zweiten Dezemberhälfte und die Einzelhandelsumsätze für die Monate Januar bis November 2020.

„Der Bundesfinanzminister muss sich jetzt bewegen. Es zeichnet sich eine Pleitewelle ab, wie wir sie noch nicht erlebt haben“, Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Einzelhandelsverbandes HDE.
„Der Bundesfinanzminister muss sich jetzt bewegen. Es zeichnet sich eine Pleitewelle ab, wie wir sie noch nicht erlebt haben“, Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Einzelhandelsverbandes HDE.

Aufschlussreich ist auch ein Blick in den Monat November: Im Einzelhandel mit Nicht-Lebensmitteln stiegen die Umsätze im Vergleich zum Vorjahresmonat real um 8,5% nominal um 8,8%. Das größte Umsatzplus mit real 31,8% und nominal 33,1% erzielte der Internet- und Versandhandel. Und: Deutlich zugenommen hat auch der Handel mit Haushaltsgeräten, Einrichtungsgegenständen und Baubedarf mit einem realen Plus von real 15,4%.

Das deckt sich mit den Aussagen vieler Unternehmen aus Industrie und Einzelhandel. „Unser bestes Jahr ever“, bekam infoboard.de in den vergangenen Wochen häufig zu hören. Wo viel Licht ist, ist auch Schatten: Deutlich unter Vorjahresniveau waren im November der Handel mit Textilien, Bekleidung, Schuhen und Lederwaren mit real -20,0% und der Einzelhandel mit Waren verschiedener Art (also Waren- und Kaufhäuser) mit real -6,1% gegenüber dem Vorjahresmonat.

Alarmierend: Wenn den Ankermietern in der Innenstadt – also vor allem Kaufhäuser und Textiler – die Luft ausgeht, sinken die Kunden-Frequenzen auch in den Fachgeschäften nebenan. Und selbst, wenn die Technical Superstores (Fachmärkte mit mindestens 800 Quadratmeter Verkaufsfläche) eher verkehrsgünstig auf der grünen Wiese anzutreffen sind, gibt es neben MediaMarkt und Saturn in den Innenstädten verbundgruppenübergreifend jede Menge „local heros“, die mit ihrer technischen Kompetenz und persönlichen Nähe punkten. Wenn die Laufkundschaft immer öfter auf dem heimischen Sofa shoppen geht, muss das nicht verheerend sein, herausfordernd ist das allemal!

„Wer auf dem heimischen Sofa auf Shoppingtor geht, kann sich den Weg in die Innenstadt immer öfter sparen. Foto: MediaMarkt
„Wer auf dem heimischen Sofa auf Shoppingtor geht, kann sich den Weg in die Innenstadt immer öfter sparen. Foto: MediaMarkt

Online-Handel der große Gewinner

Stefan Genth hat den Blick aufs Ganze: „Die herben Verluste vieler Innenstadthändler werden durch gute Geschäfte in den Bereichen Online, Lebensmittel und Möbel ausgeglichen.“ Zu den großen Gewinnern der Corona-Krise gehört zweifelsohne der Online- und Versandhandel, auf den viele Verbraucher angesichts der Lockdowns ausweichen (und wohl auch nach dem Ende der Pandemie nicht an die stationäre Ladenkasse zurückkehren). Der Online-Handel kam in den ersten elf Monaten des vergangenen Jahres auf ein Umsatzwachstum von 24,0%.

Der deutsche Online-Primus, otto.de, zeigt wie es geht: Nie zuvor haben so viele Menschen auf otto.de bestellt wie im Weihnachtsgeschäft 2020. Im Vergleich zum Weihnachtsgeschäft 2019 stieg die Anzahl der Bestellungen um fast 60%! Mit einem Plus von mehr als 50% ist die Nachfrage in den Bereichen Home & Living und Electronic & Digital besonders hoch.

„Bereits im Oktober und November lagen wir teils deutlich über dem Niveau von 2019. Dieser Trend hat sich in den zwei Wochen vor Weihnachten noch einmal massiv verstärkt“, sagt Marc Opelt, Vorsitzender des Otto-Bereichsvorstands. In den vergangenen zwölf Monaten hat Otto im Vergleich zum Vorjahreszeitraum fast zwei Millionen zusätzliche aktive Kunden gewonnen. Insgesamt zählt die Plattform otto.de derzeit rund 9,4 Millionen aktive Kunden. Das sind fast 30% mehr als noch vor einem Jahr.

„Bereits im Oktober und November lagen wir teils deutlich über dem Niveau von 2019“, Marc Opelt, Vorsitzender des Otto-Bereichsvorstands
„Bereits im Oktober und November lagen wir teils deutlich über dem Niveau von 2019“, Marc Opelt, Vorsitzender des Otto-Bereichsvorstands

Brandbrief an die Bundeskanzlerin

Geballter Frust derweil bei den Handelsverbänden. Im Brandbrief an die Bundeskanzlerin, der infoboard.de vorliegt, heißt es: „Der Bundesfinanzminister kündigt vollmundig und ohne Unterlass Milliarden Staatshilfen an – ohne Wirkung für den Einzelhandel!“ Die Staatshilfen wirkten nicht wirklich, konstatiert auch Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Sein Resümee in der FAZ (6.1.21): „Die Hilfen sind unwirksam, sie versanden in zu hohen Zugangshürden und schlechter Administration.“

Bisher hat der gesamte deutsche Einzelhandel Überbrückungshilfen in Höhe von 90 Mio. EUR erhalten. Demgegenüber beziffert der HDE den Umsatzverlust mit 36 Mrd. EUR, bei Fixkosten von 12 Mrd. EUR. Man muss nicht Mathematik studiert haben, um zu erkennen, dass da was nicht aufgeht.

Dementsprechend schwindet laut Brandbrief des HDE in breiten Teilen des Handels die Akzeptanz für die politischen Entscheidungen, auch mit dem besonderen Verweis darauf, dass die Hygienekonzepte – bei niedrigen Erkrankungszahlen der Mitarbeiter – ein sicheres Einkaufen möglich machen: „Wir erleben mit großer Sorge, dass sich aus Verzweiflung Initiativen bilden, die trotz Schließungsverfügung Geschäfte öffnen, ihre Anliegen über Kettenbriefe mit großer Reichweite transportieren und zu massiven Protestaktionen aufrufen wollen.“

Geld ist genug da

Wie geht es weiter? Wir wissen es nicht. Niemand weiß das. Das Rekordjahr 2020 wird die Hausgeräte-Branche schwerlich toppen können, zumal die vorgezogenen Käufe dank zeitweilig gesenkter Mehrwertsteuer getätigt sind. Immerhin: Geld ist genug da! Laut einer aktuellen Studie der DZ Bank sind die Deutschen weiterhin sehr fleißige Sparer.

Nach Berechnungen des Geldinstituts dürfte das Sparvermögen der deutschen Haushalte im abgelaufenen Jahr 2020 um 393 Mrd. Euro auf den neuen Rekordwert von 7,1 Billionen Euro zugenommen haben. Und: Der Ersatzbedarf ist für die Branche auch weiterhin eine sichere Bank, gerade wenn in Zeiten des „stay@home“ die Geräte vom Kaffee-Vollautomat über den Staubsauger bis zum Backofen im Akkord laufen.

Nicht zu vergessen: Auch für die Politik ist die Pandemie eine einzigartige Krise, durch die sie sich nur mittels „try and error“ im Blindflug vortasten kann. Die Menschen werden aber den Erfolg der Corona-Politik nicht zuletzt daran messen, inwieweit sich das Bild in den Städten dauerhaft verändert, wie viele Geschäfte leer stehen, in der City Tristesse pur verbreitet wird. Eine funktionierende, pulsierende Innenstadt ist ein Stück persönlicher Lebensqualität. Das erklärt, warum sich Politiker und Stadtplaner in diesen Wochen mit Vorschlägen geradezu überbieten, wie dem (stationären) Handel geholfen werden kann.

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