Der stationäre Handel sieht sich durch die digitale Transformation mit immensen Herausforderungen konfrontiert. Mancher Elektrohändler schaut wie das Kaninchen auf die Schlange, andere fühlen sich unter dem Multichannel-Dach ihrer Kooperation oder Verbundgruppe geschützt. Die Gretchenfrage für jeden Händler aber bleibt: Wie schaffe ich es auch in Zukunft, für meinen Kunden relevant zu bleiben und ihn an mich zu binden?
Klar, eine der größten Aufgaben ist und bleibt die Kombination von stationärem- und digitalem Handel, also die natürlichen Stärken des stationären Geschäfts mit sinnvollen Online-Services zu kombinieren. In der Verzahnung der Kanäle liegt ein immenses Potenzial, vorausgesetzt man findet die richtigen Lösungen. Die Vielzahl an Möglichkeiten und Konzepten, deren Mehrwert für die Retailer derzeit vor allem eine (kapitalintensive) Wette auf die Zukunft ist, schafft dabei große Unsicherheiten.
Profitieren tun dabei vor allem die Unternehmensberater und selbst ernannten Branchen-Experten. Die Debatte darüber, wie der Handel sich auf die neuen Einkaufsgewohnheiten einstellen muss, wird immer kurzatmiger. Für Unternehmensberater, die das Wort Multi- oder Omnichannel fehlerfrei buchstabieren können, eine echte Goldgrube. Und es laufen ja auch fast alle mit, überbieten sich – Branchen- wie Verbundgruppenübergreifend – mit cleveren Konzepten für den Handel 4.0.
Die neue Erfolgs-Formel (nachdem das Wort Multichannel ausgelutscht ist): Mehr Erlebnis! Klingt wunderbar. Wer möchte das nicht? Doch was bedeutet Erlebnis konkret? Drohnen, die durch das Geschäft fliegen? Eine Show-Küche in der Mitte der stationären Fläche? Kaffee-Vollautomaten, die nicht nur nach Preisklassen geordnet wie Zinnsoldaten im Regal stehen, sondern die man tatsächlich testen und die Kaffee-Qualität probieren kann? Die nachgebaute Flugzeugkabine um Kopfhörer zu testen? Oder ist es die fundierte Beratung, und der Händler, der sich uns als individueller Problemlöser zu erkennen gibt. Vermutlich von allem etwas! Wie das so in etwa funktionieren kann, zeigt der neue Saturn Flagship-Store in Köln
Fakt ist, der „Homo digitalis“ lebt sein Leben digital, dynamisch und mobil. Wie der Einzelhandel möglicherweise dennoch seine Relevanz steigern kann, zeigte das Handelsforum in Bielefeld auf. Die Erfolgsformel für den Handel brachte Volker Katschinski, Kreativdirektor bei dan pearlman (Berlin) auf einen Nenner: „Mehr Erlebnis, bitte“. Unter dem Motto „Der Kunde zwischen Bedarf und Emotion – Spannungsfeld für den Handel“ widmeten sich die Handelsexperten einen Tag lang der Frage, wie sich die Kunden im stationären Handel in Zeiten der Digitalisierung begeistern und binden lassen.
Mailin Schmelter, Senior Projektmanagerin beim IFH Köln, sieht, wenn man sich von der reinen Bedarfsdeckung hin zum Erlebnis orientiert, Chancen für den Handel: „Schöne Einkaufserlebnisse entstehen häufig durch gute Atmosphäre, Unterstützung bei Bedarf und die Interaktion mit anderen.“ Und: „Die Kunden erwarten eine individuelle Beratung. Neben gut geschultem Personal, das sich Zeit nimmt, werden inspirierende Inhalte in den sozialen Netzwerken wichtiger.“
Wie der stationäre Einzelhandel seine Relevanz für den Kunden steigern kann, machte auch Ferdinand Klingenthal, Vorsitzender des Handelsverbandes NRW Ostwestfalen – Lippe zu Beginn deutlich: „Konsequente Kundenorientierung, kreative Erlebniswelten sowie die Kooperation mit der Kommune und den Kollegen.“
Dass die Digitalisierung den POS verändert, führte Heike Scholz, Mitbegründerin der Plattform „Zukunft des Einkaufens“, eindringlich vor Augen: „Jede zweite Kaufentscheidung ist durch die sozialen Medien beeinflusst.“ Und: Der Besitz materieller Dinge verliere an Bedeutung, während das Erlebnis wichtiger werde. Dieses weg vom Materiellen, hin zum Erlebnis schließe aber einen retro-geprägten Gegentrend mit Langspielplatte und Landlust nicht aus. Digitales Detox zeige vielmehr, dass der menschliche Kontakt wichtig bleibe. Scholz: „Der Handel muss den Menschen beides bieten: digitale Verfügbarkeit und die menschliche Nähe.“
Größter Konkurrent für den Händler ist für Scholz nicht der Mitbewerber, sondern die Freizeit der Menschen: „Die Menschen erwarten Erlebnisse beim Shopping, sehen den stationären Handel als Teil der Freizeitgestaltung. Nur Ware anzubieten reicht nicht mehr!“ Die Handelsexpertin hatte eine Reihe an Rezepten mit nach Ostwestfalen gebracht: Der Handel müsse offline wie online auffindbar sein, die soziale Interaktion (Beratung, Betreuung, Community) müsse gegeben sein und die Daten der Kunden sollten sinnvoll erhoben und genutzt werden.
Zudem müsse der Handel Services anbieten, die dem Kunden Komfort und Bequemlichkeit versprechen, Zutrittshürden wie Parkgebühren gehörten abgebaut. Vor allem aber sollte der Handel Erlebnisräume schaffen. Scholz: „Die Innenstädte müssen zu Freizeiträumen werden, ein Marktplatz und Ort von Geschichten. Und die Händler müssen sich als ein Teil dieses Freizeitangebotes sehen.“
Wissenschaftliche Unterstützung bekam Scholz durch den Vortrag des Neurowissenschaftlers Dr. Henning Beck. Das menschliche Gehirn könne besser und schneller als der Computer neue Ideen aufnehmen. Das müsse sich der stationäre Handel zunutze machen, in dem er Konzepte anbiete und eben nicht unendliche Warenmengen wie 150 Müslisorten bei seinem Supermarkt um die Ecke.
Beck: „Das Gehirn denkt in Bildern und Geschichten. Die Menschen kaufen keine Produkte und Features, sondern die Ideen und Geschichten dahinter.“ Wie sich das umsetzen lässt, zeigten in Bielefeld eine Hand voll „best practise“-Beispiele. Bernard Homan etwa, Inhaber eines Geschäftes für Schenken, Kochen und Wohnen in Dülmen, bietet neben Grill- und Kochkursen auch Kunstauktionen an.
Ist der stationäre Händler ein Auslaufmodell? Sicher nicht. Zumindest wenn sich der Handel auf seine Kernkompetenz besinnt, hat er seine besten Tage noch vor sich. Denn der Faktor Mensch macht den Unterschied, ist der Schlüssel zum Erlebnis-Einkauf. „Der persönliche Kontakt ist die Chance, die wir haben. Das kann das Internet nicht“, predigte es Elmar Fedderke, Geschäftsführer von „Küchen & Geräte Walgenbach“ in Düsseldorf, an gleicher Stelle schon ein Jahr zuvor.
Und: Die Amazonisierung sei nicht das Grundübel. Warum also nicht einfach besser verkaufen? Das Einkaufen vor Ort sei deutlich mehr als der Tausch Ware gegen Geld. Fedderkes Ratschlag: „Emotionalität, Problemlösung und Wunscherfüllung schaffen Kundenbindung.“
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