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Wandle Dich – oder stirb!

Klarer lässt sich ein siebenstündiger Kongress nicht auf den Punkt bringen: „Innovate or die!“ ist die Botschaft, mit der Dr. Kai Hudetz, Geschäftsführer des Kölner IFH Institut für Handelsforschung, die Teilnehmer des 28. Handelsforum Ostwestfalen-Lippe in Bielefeld konfrontierte. Wer hier – beim höchst aktuellen Tagungsthema „Handel 4.0 – Digitalisierung als Herausforderung und Chance“ – Trost oder Zuspruch gesucht hatte, war scheinbar (erst einmal) fehl am Platz. Im Gegenteil: Allen, die angesichts leicht abnehmender Wachstumsraten beim Online-Handel schon das Ende des e-Commerce sehen, rief Hudetz zu: „Es kommt noch jede Menge Eisberg auf uns zu.“ Hudetz zitierte Amazon-Gründer Jeff Bezos, wonach es erst „Tag eins im e-Commerce“ ist. Ralf Kleber, Deutschland-Chef von Amazon, wird mit den Worten „Unser Ziel ist es, alle Produkte auf der ganzen Welt online verfügbar zu machen“, zitiert.

70 % der stationären Händler droht das Aus ^

Vor diesem Hintergrund entwarf Hudetz fünf Thesen zur Zukunft des Handels im digitalen Zeitalter. Erste These: 70 % der traditionellen Händler werden sich völlig neu erfinden (müssen) oder sie veschwinden. Denn die Zahl der traditionellen Käufer, die ausschließlich stationär im Laden einkaufen, schrumpft immer stärker. Ihr Anteil ist in nur drei Jahren zwischen 2012 und 2015 von 52 % auf 32 % gesunken. Hudetz: „Wenn der Handel sich auf diese Gruppe verlässt, wird er schnell verlassen sein.“

Entscheidend für die Zukunft sei der Käufertypus des selektiven Online-Shoppers, der Bücher oder CDs eher im Internet kauft, für andere Dinge aber nach wie vor ein Ladengeschäft bevorzugt. Der Anteil dieser Käufer sei im gleichen Zeitraum von 31 % auf 45 % gestiegen. Trotzdem sind die Folgen – daran ändert auch der selektive Shopper nichts – gravierend und in den USA schon vielerorts zu beobachten: sinkende Frequenzen in den Einkaufsstraßen, weniger Filialen, mehr leerstehende Flächen, höhere Marktkonzentration.

… aber auch 90 % der Pure Online verschwinden ^

Auch 90 % der reinen Online-Händler werden nicht überleben, so Hudetz zweite These. Das habe nicht zuletzt damit zu tun, dass Amazon den anderen Händlern keine Luft lasse. Hudetz anerkennend: „Es gibt nichts, was man besser machen kann.“ Im Cross-Channel sieht Hudetz die einzige Zukunft. Man müsse den Vertrauensvorschuss des stationären Geschäftes in die Online-Welt übertragen.

„Kanaldenken war gestern – Multi-Touchpoint-Management ist morgen“, so die dritte seiner Thesen. Hudetz plädiert für flexible, relevante und unterhaltende Einkaufsformate entlang der Customer Journey (These 4). Heißt: „Mit flexiblen Formaten, beispielsweise Pop-Up-Stores, da sein, wo die Kunden sind, das bestimmt den Handel der Zukunft.“ Hudetz ermutigte die Einzelhändler, sich ungeachtet ihrer Größe als Marke zu definieren, denn, so seine fünfte These, „starke Marken dominieren den Markt“. Seine Handlungsempfehlungen an die Kongress-Teilnehmer: „Überlegen Sie, wie Sie sich von Amazon differenzieren können. Überlegen Sie aber auch, was Sie von Amazon lernen können. Erfahren Sie mehr über Ihre Kunden, lernen Sie, Ihre Kunden individueller anzusprechen.“

Kanal-Denken? Vergessen Sie’s! ^

Das Tempo der digitalen Veränderung im Handel nimmt rasant zu, das Rad der digitalen Zukunftschnacen dreht sich immer schneller. Taktgeber ist der „neue Kunde“, bestens vernetzt und (zumindest vordergründig) top-informiert. Wie kann da der Handel erfolgreich Brücken über alle Kanäle hinweg zum Kunden schlagen?

„Der Kunde denkt nicht in Kanälen“, Thorsten Heckrath-Rose, Rose Bikes, Bocholt.

Vergessen Sie das Kanal-Denken, so die eindringliche Empfehlung von Thorsten Heckrath-Rose. Als Geschäftsführer der Rose Bikes aus Bocholt handelt er zwar nicht mit Hausgeräten, kann aber auch der Stecker-Branche überzeugend darlegen, wie die Digitalisierung zwischen stationärem Einzelhandel und Onlineshop mit Bravour gelingen kann. Aus dem einst kleinsten Fahrradladen in Bocholt wurde ein Vorzeigeunternehmen der Digitalisierung. An jedem der Ausstellungsfahrräder sind Tablets aufgestellt. So kann der Kunde sein Wunschfahrrad selbst konfigurieren und das mit dem gleichen System wie im Online-Shop. Denn: „Der Kunde denkt nicht in Kanälen. Ziel ist die durchgängige User-Experience, ein durchgängiges, kanal- und filialübergreifendes Shopping-Erlebnis. Das ist „No-Channel!“ ruft Heckrath-Rose den Unternehmensberatern und Projektentwicklern zu, die in diesen Tagen unisono das Wohl des stationären Handels im Multi- und Omnichannel-Handel sehen.

EP: Müller: Wohlfühl-Atmosphäre ^

Schwören auf die Tradition, legten beim Vortrag ihren Kittel aber schnell ab: Katharina Demeter-Müller und Klaus-Dieter Müller (EP: Müller, Ruppichteroth).

Wie es mit dem Handel zwischen „Horror und Hoffnung“ („Neue Westfälische“ vom 28. April) erfolgreich nach vorne gehen kann, verdeutlichten die richtungweisenden Vorträge der Praktiker und Vollblut-Händler. Klaus-Dieter Müller, agiler und wortgewandter Inhaber von EP: Müller aus Ruppichteroth, ist aufmerksamen Lesern des infoboard-Newsletters kein Unbekannter. Zusammen mit seiner Frau Katharina Demeter-Müller erläuterte er anschaulich, wie der Fachhandel mit Wohlfühl-Atmosphäre, stationärer Kompentenz und Herzlichkeit Bewährtes mit neuen Kundenanforderungen verknüpfen kann.

Mitten ins Herz ^

Bei EP: Müller sind es Dienstleistungen wie eine Meisterwerkstatt, RWE-Berater, Post-Shop oder der Leihservice für E-Bikes, die über das Kerngeschäft mit Unterhaltungselektronik und Hausgeräten hinaus für Frequenz sorgen. Vor allem: „Wir haben ein Gesicht. So erreichen wir die Herzen unserer Kunden“, ist sich Müller sicher. Das Credo des Unternehmerpaares: „Machen Sie die Ware erlebbar, begeistern Sie ihre Kunden haptisch, schaffen Sie Harmonie. Und halten Sie sich bei ihren Kunden in Erinnerung. Wir geben jeden Tag unser bestes, um die Wünsche unserer Kunden zu erfüllen.“

EP: Loevenich: Besser als das Internet ^

„Für die nicht geleistete Dienstleistung ist das Internet vergleichsweise teuer“, Balthasar Loevenich, EP: Loevenich, Jülich.

„Das, was wir besser können als das Internet, ist der Service“, bringt es Balthasar Loevenich (EP: Loevenich, Jülich), den wir tags zuvor im Rheinischen Braunkohlerevier besucht haben, ähnlich auf den Punkt. Der 67-jährige führt sein Unternehmen „mit Liebe und Hingabe“, setzt wie Klaus-Dieter Müller auf modernste Ladenarchitektur und den Einsatz von Virtual Shelf als verlängerte Ladentheke und Info-Point. Doch zwei Grundsätze sind für ihn im stationären Händlerdasein unumstößlich, Sätze, die auch Müller blind mit unterschreiben würde: „Die Geschäfte werden unter Menschen gemacht.“ Und: „Da, wo sich im Ort etwas tut, bin ich unterwegs“. Nicht der virtuelle Kontakt in der Facebook-Gruppe (die gibt es auch) zählt, sondern die Begegnung mit Menschen.

Die Multichannel-Falle ^

Zurück nach Bielefeld: „Ist die schöne neue Welt der Digitalisierung Dichtung oder Wahrheit?“, fragte schließlich Marc Sommer, mit reichlich Bertelsmann- und Primondo-Erfahrung behaftet, heute aber Vorsitzender Geschäftsführer der Firma Hess Natur, ein wenig provokant. Fakt sei, der Umbruch durch die Digitalisierung ist massiv und betrifft alle Bereiche. Darauf muss jedes Unternehmen seine eigene Reaktion finden und den Kundennutzen dabei im Fokus haben. „Ansonsten besteht das Risiko, dass finanzielle und personelle Ressourcen falsch eingesetzt werden und zu einer starken Defokussierung vom Kerngeschäft führen“, warnte Sommer vor der Multichannel-Falle. Denn: Nicht jeder Einzelhändler, der nebenbei einen Online-Shop betreibt, werde überleben können. Schließlich sei ja das Internetgeschäft auch mit hohen IT-Kosten, hohem Margendruck und einem Mangel an Spezialisten verbunden.

Fazit: Wenn der stationäre Handel sich auf seine Stärken konzentriert, gleichzeitig sein Online-Angebot ausbaut, dann hat er Zukunft. Der Dreiklang aus Top-Service und excellenter Beratung, gepaart mit einem schlüssigen Internetauftritt und  durchgängiger User-Experience, kann die Erfolgsformel sein.

 

Handeln Sie! ^

Nachfolgend eine Auswahl an Handlungsempfehlungen für den Händler-Alltag von den Referenten des Handelsforum Ostwestfalen-Lippe:

Dr. Kai Hudetz (IFH, Kön):

  • Überlegen Sie, wie Sie sich von Amazon differenzieren können. Was sind die klassischen Stärken des Facheinzelhandels?
  • Überlegen Sie, was Sie von Amazon lernen können. Erfahren Sie mehr über Ihre Kunden, lernen Sie, Ihre Kunden individueller anzusprechen.
  • Stärken Sie Ihre Innovationskraft und Innovationsfreude!

Norbert Pühringer (Team Retail Excellence, Wien):

  • Arbeiten Sie mit Analogien und Bildern. Sie helfen, abstrakte Themen emotional zu verankern. Entwickeln Sie ein Bild für Ihr nächstes Ziel und verankern Sie es damit im Unterbewusstsein Ihrer Mitarbeiter und bei sich selbst.

Thorsten Heckrath-Rose (Rose Bikes, Bocholt):

  • Nehmen Sie ALLE aus Ihrem Team bei Veränderungen von vornherein mit. Unsere größte Herausforderung im digitalen Wandel waren und sind immer noch die Menschen und Kollegen.

Marc Sommer (Vorsitzender Geschäftsführer Hess Natur):

  • Jedes Unternehmen muss seine eigene Reaktion auf die Digitalisierung finden und den Kundennutzen dabei im Fokus haben. Ansonsten besteht das Risiko, dass finanzielle und personelle Ressourcen falsch eingesetzt werden und zu einer starken Defokussierung vom Kerngeschäft führen.

Klaus-Dieter Müller (EP: Müller Ruppichteroth):

  • Prüfen Sie Ihre Internetpräsenz und die Präsenz in den sozialen Medien.
  • Machen Sie Ware erlebbar.

Markus Stratmann (Ranzenfee, Rheda-Wiedenbrück):

  • Sehen Sie Ihr Geschäft als Marke.
  • Suchen Sie sich Alleinstellungsmerkmale.
  • Seien Sie etwas Besonderes und definieren Sie sich nicht über den Preis!

Michael Wendt (Mitbegründer Locafox, Berlin):

  • „Online sein” muss nicht Online-Shop heißen. Nutzen Sie wichtige lokale Portale, um ohne viel Aufwand sicherzustellen, dass User Ihr Geschäft finden.
  • Eine Verzahnung aller Kanäle benötigt vor allem eines: Synchronisation von Daten. Prüfen Sie, ob Ihre Warenwirtschaft fit für online ist.

Mariam Dombrovskaja (Shopkick, Berlin):

  • Zurück zu den Kernkompetenzen im stationären Handel: Das ist vor allem eine tiefe Kenntnis des lokalen Bedarfs und Kunden. Jeder Händler sollte kritisch beleuchten, ob alle digitalen Initiativen wirklich notwenig sind. Digital/Online/Mobile soll den übergeordneten Zielen des Händlers und dem Nutzen des Konsumenten dienen – aber nicht zum Selbstzweck verkommen.
Matthias M. Machan

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