Vor diesem Hintergrund entwarf Hudetz fünf Thesen zur Zukunft des Handels im digitalen Zeitalter. Erste These: 70 % der traditionellen Händler werden sich völlig neu erfinden (müssen) oder sie veschwinden. Denn die Zahl der traditionellen Käufer, die ausschließlich stationär im Laden einkaufen, schrumpft immer stärker. Ihr Anteil ist in nur drei Jahren zwischen 2012 und 2015 von 52 % auf 32 % gesunken. Hudetz: „Wenn der Handel sich auf diese Gruppe verlässt, wird er schnell verlassen sein.“
Entscheidend für die Zukunft sei der Käufertypus des selektiven Online-Shoppers, der Bücher oder CDs eher im Internet kauft, für andere Dinge aber nach wie vor ein Ladengeschäft bevorzugt. Der Anteil dieser Käufer sei im gleichen Zeitraum von 31 % auf 45 % gestiegen. Trotzdem sind die Folgen – daran ändert auch der selektive Shopper nichts – gravierend und in den USA schon vielerorts zu beobachten: sinkende Frequenzen in den Einkaufsstraßen, weniger Filialen, mehr leerstehende Flächen, höhere Marktkonzentration.
Auch 90 % der reinen Online-Händler werden nicht überleben, so Hudetz zweite These. Das habe nicht zuletzt damit zu tun, dass Amazon den anderen Händlern keine Luft lasse. Hudetz anerkennend: „Es gibt nichts, was man besser machen kann.“ Im Cross-Channel sieht Hudetz die einzige Zukunft. Man müsse den Vertrauensvorschuss des stationären Geschäftes in die Online-Welt übertragen.
„Kanaldenken war gestern – Multi-Touchpoint-Management ist morgen“, so die dritte seiner Thesen. Hudetz plädiert für flexible, relevante und unterhaltende Einkaufsformate entlang der Customer Journey (These 4). Heißt: „Mit flexiblen Formaten, beispielsweise Pop-Up-Stores, da sein, wo die Kunden sind, das bestimmt den Handel der Zukunft.“ Hudetz ermutigte die Einzelhändler, sich ungeachtet ihrer Größe als Marke zu definieren, denn, so seine fünfte These, „starke Marken dominieren den Markt“. Seine Handlungsempfehlungen an die Kongress-Teilnehmer: „Überlegen Sie, wie Sie sich von Amazon differenzieren können. Überlegen Sie aber auch, was Sie von Amazon lernen können. Erfahren Sie mehr über Ihre Kunden, lernen Sie, Ihre Kunden individueller anzusprechen.“
Das Tempo der digitalen Veränderung im Handel nimmt rasant zu, das Rad der digitalen Zukunftschnacen dreht sich immer schneller. Taktgeber ist der „neue Kunde“, bestens vernetzt und (zumindest vordergründig) top-informiert. Wie kann da der Handel erfolgreich Brücken über alle Kanäle hinweg zum Kunden schlagen?
Vergessen Sie das Kanal-Denken, so die eindringliche Empfehlung von Thorsten Heckrath-Rose. Als Geschäftsführer der Rose Bikes aus Bocholt handelt er zwar nicht mit Hausgeräten, kann aber auch der Stecker-Branche überzeugend darlegen, wie die Digitalisierung zwischen stationärem Einzelhandel und Onlineshop mit Bravour gelingen kann. Aus dem einst kleinsten Fahrradladen in Bocholt wurde ein Vorzeigeunternehmen der Digitalisierung. An jedem der Ausstellungsfahrräder sind Tablets aufgestellt. So kann der Kunde sein Wunschfahrrad selbst konfigurieren und das mit dem gleichen System wie im Online-Shop. Denn: „Der Kunde denkt nicht in Kanälen. Ziel ist die durchgängige User-Experience, ein durchgängiges, kanal- und filialübergreifendes Shopping-Erlebnis. Das ist „No-Channel!“ ruft Heckrath-Rose den Unternehmensberatern und Projektentwicklern zu, die in diesen Tagen unisono das Wohl des stationären Handels im Multi- und Omnichannel-Handel sehen.
Wie es mit dem Handel zwischen „Horror und Hoffnung“ („Neue Westfälische“ vom 28. April) erfolgreich nach vorne gehen kann, verdeutlichten die richtungweisenden Vorträge der Praktiker und Vollblut-Händler. Klaus-Dieter Müller, agiler und wortgewandter Inhaber von EP: Müller aus Ruppichteroth, ist aufmerksamen Lesern des infoboard-Newsletters kein Unbekannter. Zusammen mit seiner Frau Katharina Demeter-Müller erläuterte er anschaulich, wie der Fachhandel mit Wohlfühl-Atmosphäre, stationärer Kompentenz und Herzlichkeit Bewährtes mit neuen Kundenanforderungen verknüpfen kann.
Bei EP: Müller sind es Dienstleistungen wie eine Meisterwerkstatt, RWE-Berater, Post-Shop oder der Leihservice für E-Bikes, die über das Kerngeschäft mit Unterhaltungselektronik und Hausgeräten hinaus für Frequenz sorgen. Vor allem: „Wir haben ein Gesicht. So erreichen wir die Herzen unserer Kunden“, ist sich Müller sicher. Das Credo des Unternehmerpaares: „Machen Sie die Ware erlebbar, begeistern Sie ihre Kunden haptisch, schaffen Sie Harmonie. Und halten Sie sich bei ihren Kunden in Erinnerung. Wir geben jeden Tag unser bestes, um die Wünsche unserer Kunden zu erfüllen.“
„Das, was wir besser können als das Internet, ist der Service“, bringt es Balthasar Loevenich (EP: Loevenich, Jülich), den wir tags zuvor im Rheinischen Braunkohlerevier besucht haben, ähnlich auf den Punkt. Der 67-jährige führt sein Unternehmen „mit Liebe und Hingabe“, setzt wie Klaus-Dieter Müller auf modernste Ladenarchitektur und den Einsatz von Virtual Shelf als verlängerte Ladentheke und Info-Point. Doch zwei Grundsätze sind für ihn im stationären Händlerdasein unumstößlich, Sätze, die auch Müller blind mit unterschreiben würde: „Die Geschäfte werden unter Menschen gemacht.“ Und: „Da, wo sich im Ort etwas tut, bin ich unterwegs“. Nicht der virtuelle Kontakt in der Facebook-Gruppe (die gibt es auch) zählt, sondern die Begegnung mit Menschen.
Zurück nach Bielefeld: „Ist die schöne neue Welt der Digitalisierung Dichtung oder Wahrheit?“, fragte schließlich Marc Sommer, mit reichlich Bertelsmann- und Primondo-Erfahrung behaftet, heute aber Vorsitzender Geschäftsführer der Firma Hess Natur, ein wenig provokant. Fakt sei, der Umbruch durch die Digitalisierung ist massiv und betrifft alle Bereiche. Darauf muss jedes Unternehmen seine eigene Reaktion finden und den Kundennutzen dabei im Fokus haben. „Ansonsten besteht das Risiko, dass finanzielle und personelle Ressourcen falsch eingesetzt werden und zu einer starken Defokussierung vom Kerngeschäft führen“, warnte Sommer vor der Multichannel-Falle. Denn: Nicht jeder Einzelhändler, der nebenbei einen Online-Shop betreibt, werde überleben können. Schließlich sei ja das Internetgeschäft auch mit hohen IT-Kosten, hohem Margendruck und einem Mangel an Spezialisten verbunden.
Fazit: Wenn der stationäre Handel sich auf seine Stärken konzentriert, gleichzeitig sein Online-Angebot ausbaut, dann hat er Zukunft. Der Dreiklang aus Top-Service und excellenter Beratung, gepaart mit einem schlüssigen Internetauftritt und durchgängiger User-Experience, kann die Erfolgsformel sein.
Nachfolgend eine Auswahl an Handlungsempfehlungen für den Händler-Alltag von den Referenten des Handelsforum Ostwestfalen-Lippe:
Dr. Kai Hudetz (IFH, Kön):
Norbert Pühringer (Team Retail Excellence, Wien):
Thorsten Heckrath-Rose (Rose Bikes, Bocholt):
Marc Sommer (Vorsitzender Geschäftsführer Hess Natur):
Klaus-Dieter Müller (EP: Müller Ruppichteroth):
Markus Stratmann (Ranzenfee, Rheda-Wiedenbrück):
Michael Wendt (Mitbegründer Locafox, Berlin):
Mariam Dombrovskaja (Shopkick, Berlin):
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